Als ich im Herbst 2023 den “Salon de Refusées” im Berliner krautART ARTspace initiierte, war mir noch nicht klar, welche Wucht das Projekt entfalten würde. Die Resonanz war überwältigend – gerade auf Instagram. Künstlerinnen aus unterschiedlichsten Kontexten meldeten sich, teilten ihre Erfahrungen, ihre Unsichtbarkeit, ihre Wut. Anders als in klassischen Ausstellungen gab es keine Kuration im engeren Sinne – ich wollte bewusst keine neuen Ausschlüsse schaffen. Bewerbungen wurden angenommen, sofern sie von weiblich gelesenen Künstlerinnen stammten und den formalen Vorgaben entsprachen.
Letztlich umfasste die Ausstellung rund 46 Positionen aus vielen verschiedenen Ländern. Parallel dazu wurden in Berlin erneut massive Kürzungen im Kulturbereich angekündigt – ein weiterer Einschnitt, der mir vor Augen führte: Es reicht nicht, nur über strukturelle Missstände zu reden. Es braucht kollektive künstlerische Handlung.
Vernissage Salon de Refusées im Februar 2024. Foto von ©Nikolina Webers
So entstand der Impuls für Voices of the Unseen – ein Folgeprojekt, mit dem mich das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beauftragt hat.
Ausschlaggebend waren nicht nur die kulturpolitischen Entwicklungen in Berlin, sondern auch die drohende Verdrängung von Ateliergemeinschaften wie den B.L.O. Ateliers, in denen auch ich arbeite – oder besser: arbeitete. Seit Frühjahr 2024 dürfen wir unsere Räume aufgrund angeblicher elektrotechnischer Mängel nicht mehr nutzen. Miete zahlen wir trotzdem weiter. Willkommen in der Realität freier Kunstproduktion.
Phase 1 – Erkenntnis
Voices of the Unseen begann als künstlerische Forschung. Ich entwickelte einen umfangreichen Fragenkatalog und lud 13 Künstlerinnen aus dem Netzwerk des Salon de Refusées ein, daran teilzunehmen. Die Rückläufe anonymisierte ich – und war tief bewegt von den Antworten. Trotz aller geografischer, kultureller, sozialer Unterschiede: die Themen, Sorgen und Hoffnungen ähnelten sich. Ausbeutung, Unsichtbarkeit, prekäre Bedingungen, aber auch Resilienz, poetischer Ausdruck und politische Wucht.
Phase 2 – Kollektive Komposition
Aus den Fragebögen, gemeinsamen Chats, Brainstorming-Notizen und Gesprächen entstand Schritt für Schritt ein Konzept für ein kollektives künstlerisches Video. Das Material wurde von den Künstlerinnen selbst eingereicht: Videos, Fotos und Fotoserien, performative Sequenzen, Sprachaufnahmen, Texte. Manche Inhalte waren bereits als montagefähiges Material gedacht, andere entstanden aus dokumentarischem Rohmaterial.
Die eingesendeten Beiträge enthielten nicht nur Bildmaterial, sondern oft auch intensive gesprochene Texte – Essays, poetische Fragmente, politische Statements, Erinnerungen und Zwiegespräche mit der Welt. Die Voiceovers wurden zum erzählerischen Kern des Videos: Sie sprechen über Krieg, Migration, Auslöschung, Kolonialismus, Zugehörigkeit und Körperpolitik – oft mit erschütternder Klarheit und sprachlicher Kraft.
Das Video “Voices of the Unseen” berührt – nicht über Ästhetik allein, sondern über Rhythmus, Sprache, Klang und visuelle Verdichtung. Die Themen, die die Künstlerinnen ansprachen, sind existenziell: Migration, Verlust, Körper, Raum, Sprache, Auslöschung.
Dramaturgie – SPACE. ROOTS. BODY.
Um die Vielzahl an Eindrücken zugänglich zu machen, gliederten wir das Video in drei thematische Abschnitte:
Space
Raum – im Sinne von Ateliers, aber auch utopischen, fiktiven, inneren Räumen. Der Wunsch nach Freiräumen und Rückzugsorten,…
Roots
steht für Herkunft, Migration, Entwurzelung und die Suche nach Verankerung in einer globalisierten Welt.
Body
nimmt den weiblichen Körper in den Blick – seine Verletzlichkeit, seine Kraft, seine politische Dimension in patriarchalen Kontexten.
Musik spielt eine zentrale Rolle. Ich habe sowohl lizenzierte Musik als auch selbst erstellte KI-Kompositionen verwendet, um eine emotionale Tiefe zu erzeugen, die den fragmentarischen Bildern einen rhythmischen Zusammenhalt gibt.
Viele der eingereichten Texte wurden gesprochen – z.Bsp. auf Englisch, Spanisch, Mandarin (Festland & Taiwan), Russisch, Deutsch. Alle Beiträge sind englisch untertitelt. Gerade diese polyglotte Sprachlandschaft erzeugt eine poetische Verdichtung, die dem Video eine eigene Intensität verleiht. Die Stimmen sind roh, fragil, kraftvoll.
Sichtbarkeit als Widerstand
Der Titel Voices of the Unseen war schnell gefunden. Er verweist auf die systemische Unsichtbarmachung, die viele Künstlerinnen betrifft – sei es als Migrantin, als Frau, als nichtkonforme Stimme in einem normierten Kunstsystem. Spätestens seit der documenta 15 wurde deutlich, wie schnell der Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert werden kann, um global verortete, kritische Kunstpositionen zu delegitimieren – und wie überfordert viele Institutionen damit sind, solche Spannungen differenziert auszuhalten. Doch genau das – Spannungen sichtbar zu machen, Ambivalenzen auszuhalten und kritische Diskussionen zu fördern – sollte eine zentrale Aufgabe von Kunst sein. Stattdessen haben sich die Spielräume für politische Auseinandersetzungen in vielen Bereichen verengt und polarisiert. Gleichzeitig erleben viele Künstlerinnen – unabhängig von Alter, Herkunft oder Medium – eine gläserne Decke: im Kunstbetrieb wie im Beruflichen insgesamt. Voices of the Unseen setzt dem etwas entgegen: Präsenz. Resonanz. Vielstimmigkeit.
Kunst als Forschung – Forschung als Kunst
Mit meinem sozialwissenschaftlichen Hintergrund war mir immer klar, dass Kunst auch Erkenntnisform ist. Aber im Unterschied zur Wissenschaft ist sie nicht normiert. Sie darf fragmentarisch, subjektiv, poetisch sein – und gerade dadurch Wahrheiten erfassen, die sich quantitativer Erhebung entziehen. Voices of the Unseen ist kein Gegensatz zur Forschung – es ist ihre Erweiterung. Eine Erkenntnisform, die berührt.

