Ein Blick auf Kontrolle, kulturelle Angst und den schleichenden Rechtsdrift der Mitte – im globalen Kontext
1. Zwischen Inszenierung und Realität: Die Bühne der Migrationspolitik
Friedrich Merz ist seit Mai 2025 Bundeskanzler. Die CDU/CSU regiert gemeinsam mit der SPD – letztere trotz drittem Platz bei der Wahl. Diese fragile Koalition versucht, politische Handlungsfähigkeit zu zeigen. Doch viele migrationspolitische Vorschläge der Union – etwa der „Fünf-Punkte-Plan“, den sie mit Stimmen der AfD durchsetzte und damit einen Bruch mit bisher geltenden Werten vollzog – sind rechtlich umstritten oder praktisch kaum durchführbar. Das tut ihrer Wirkung keinen Abbruch: In der Öffentlichkeit geht es nicht um Machbarkeit, sondern um Ängste. Diesen politisch und medienvermittelten Stimmungen und gesellschaftlichen Verunsicherungen setzt die Union angebliche “Sicherheit” und “Ordnung” entgegen.
Solche symbolisch aufgeladenen Maßnahmen sind kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Sie folgen einem globalen Trend: Überall, wo Demokratie schwächelt, blüht Politik als Bühne. Von Trump bis Meloni, von Orban bis Netanjahu – politische Führung wird zunehmend zur autoritären Pose.
2. Ordnung und Identität: Migrationspolitik als Abschottungsprojekt
Begriffe wie „Belastungsgrenze“, „Remigration“ oder „Leitkultur“ gehören inzwischen zum Repertoire der Union – und erinnern verdächtig an Narrative der AfD. Gleichzeitig spiegeln sie Sprachmuster aus den USA („illegal aliens“, „border security“) oder Frankreich („immigration choisie“).
Die CDU/CSU beteiligt sich an einem internationalen Diskurs, der Migration nicht als soziale und ökonomische Realität begreift, sondern als Bedrohung für nationale Identität. Dabei zeigt sich: Die EU streitet über Asylzentren außerhalb Europas, die USA bauen Zäune, Australien lagert Geflüchtete auf Inseln aus. Deutschland klinkt sich rhetorisch ein.
Markus Söder nannte Grenzsicherung einen „patriotischen Akt“. Innenpolitisch wird so getan, als sei Migration ein sicherheitspolitisches Problem – nicht etwa Ausdruck globaler Ungleichheit oder Folge europäischer Handels- und Klimapolitik. Dabei ist unübersehbar: Die Klimakrise ist bereits einer der zentralen Treiber globaler Migration – durch Dürre, Überschwemmungen, Ressourcenkonflikte. Wer Migration bekämpfen will, ohne die Klimazusammenhänge mitzudenken, bekämpft Symptome, nicht Ursachen.
3. Von Merkel zu Merz: Migrationspolitik als ideologischer Wendepunkt
Angela Merkel stand 2015 für ein zögerndes, aber dennoch deutliches Ja zur Aufnahme von Geflüchteten. Friedrich Merz steht 2025 für das genaue Gegenteil: restriktive Asylverfahren, mehr Abschiebungen, Grenzkontrollen und Leistungskürzungen. Auch die CSU verschärft den Ton: Von christlicher Nächstenliebe ist nicht viel übrig geblieben.
Während Merkel noch versuchte, das „C“ im Parteinamen mit Inhalt zu füllen, nutzt Merz es als rhetorisches Relikt. Christlich ist hier nicht mehr das moralische Gebot zur Hilfe, sondern das kulturelle Siegel der Zugehörigkeit.
4. Migration als kultureller Kampfplatz: Die CDU/CSU im Kulturkrieg
Migration wird von der Union nicht mehr sozialpolitisch, sondern kulturell verhandelt. CDU-Generalsekretär Linnemann forderte C1-Sprachniveau für Einbürgerung. Begründung: Wer Teil der Gesellschaft sein wolle, müsse sich „unsere Werte“ zu eigen machen. Doch welche Werte sind das überhaupt?
Das Framing ähnelt US-amerikanischen Debatten um „wokeness“, „cancel culture“ und den angeblichen Werteverfall. Auch in Deutschland entsteht daraus eine rechte Kulturkampffront: gegen Gendern, gegen queere Sichtbarkeit, gegen antirassistische Bildung.
Die AfD steht hier nicht isoliert. Sie wird inhaltlich, rhetorisch und symbolisch von der Union hofiert – etwa durch die Forderung nach Bezahlkarten für Geflüchtete, die Ablehnung jeglichen Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte oder die bewusste Verwendung des Begriffs “Remigration”, der ursprünglich aus rechtsextremen Kreisen stammt. Wenn Merz sich Begriffe wie „Remigration“ nicht ausdrücklich verbittet, sondern mit ihnen Stimmen fischt, ist die Grenze nicht verwischt, sondern eingerissen.
5. Familie, Nation, Ausschluss – Sozialpolitik als migrationspolitisches Machtinstrument
Die Union denkt Sozialpolitik nicht als Schutz, sondern als Kontrolle. Das Bürgergeld soll abgeschafft, der Familiennachzug stark eingeschränkt werden. Dabei ignoriert man systematisch: Familiennachzug stabilisiert, schafft emotionale Sicherheit, fördert Integration.
Und Bürgergeld ermöglicht Menschen ohne finanzielles Polster ein Überleben mit einem absoluten Mindestmaß an Würde im kapitalistisch geprägten Kontext.
Doch das CDU/CSU-Narrativ lautet: Wer Hilfe braucht, muss sich als „wertvoll“ beweisen. Die Familie wird nur dann als schützenswert betrachtet, wenn sie deutsch, obrigkeitlich angepasst und leistungsfähig – ein Schweigen, das nicht neutral, sondern strukturell erwünscht ist. Geflüchtete Familien gelten als Belastung – ein Blickwinkel, den die Union mit der AfD teilt.
Diese Haltung ähnelt konservativen Strömungen in den USA seit Reagan: Der Staat schützt nicht, er bestraft. Armut wird moralisiert, Migration dämonisiert. Integration heißt nicht Teilhabe, sondern Anpassung an eine imaginiert homogene Leitkultur.
6. Der globale Kontext der Migrationspolitik: Krieg, Kapital, Doppelmoral – und Gaza
Die Union spricht gern von „Ordnung“. Doch diese Ordnung ist selektiv. Ukrainische Geflüchtete wurden 2022 mit offenen Armen empfangen. Afghanische oder syrische Menschen dagegen mit Bürokratie, Misstrauen und Ablehnung. Die Hautfarbe, Religion und geopolitische Nützlichkeit entscheiden über Willkommenskultur.
Putins Angriffskrieg in der Ukraine hat die Debatte verschärft. Sicherheitspolitik ersetzt Humanität. Gleichzeitig wird mit autoritären Regimen wie China oder Saudi-Arabien pragmatisch kooperiert. Menschenrechte sind verhandelbar, solange Wirtschaftsinteressen dominieren:
Diese Zusammenarbeit zeigt sich beispielsweise in den umfangreichen Investitionen Chinas in Saudi-Arabien im Rahmen von Vision 2030. China hat sich dabei eng mit den saudischen Entwicklungszielen abgestimmt, insbesondere in Bereichen wie Infrastruktur, Energie und Technologie. Dabei wird regelmäßig über massive Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern hinweggegangen – etwa die systematische Unterdrückung von Minderheiten, Arbeitszwang, fehlende Meinungsfreiheit oder das Fehlen unabhängiger Justiz. Die wirtschaftliche Kooperation blendet menschenrechtliche Standards aus und normalisiert damit autoritäre Regierungsformen im internationalen Austausch.
Darüber hinaus hat Deutschland nach einem 2018 verhängten Rüstungsexportstopp im Jahr 2024 wieder Waffen an Saudi-Arabien geliefert. Diese Entscheidung wurde trotz der anhaltenden Menschenrechtsbedenken getroffen und zeigt die Priorisierung wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Interessen über menschenrechtliche Erwägungen.
Die CDU/CSU hat in diesem Kontext betont, dass eine strategische Rüstungsexportpolitik notwendig sei, die sich an den außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands orientiert. Diese Haltung unterstreicht die Bereitschaft, mit autoritären Regimen zusammenzuarbeiten, wenn es den nationalen Interessen dient.
Hinzu kommt: Der Umgang mit der Situation in Israel und Gaza offenbart eine neue Dimension dieser selektiven Empathie. Während berechtigte Solidarität mit Israel – auch im Angedenken der Shoah – zuweilen in einen unkritischen Blankoscheck für Netanjahus rechtsnationalistische Politik kippt, wird jede öffentliche Kritik an der humanitären Katastrophe in Gaza sofort als antisemitisch gebrandmarkt. Die Repression von Gaza-Protesten in Deutschland und den USA, verbunden mit Massenüberwachung, Exmatrikulationen, Polizeigewalt und Berufsverboten, fügt sich ein in ein zunehmend illiberales Klima. Auch hier sind CDU/CSU maßgeblich beteiligt – sowohl in der Rhetorik als auch durch Gesetzesinitiativen gegen „importierten Antisemitismus“, die in der Praxis häufig pauschalisierend wirken.
Klimawandel, Krieg, Kapitalinteressen, Identitätskonflikte und postkoloniale Machtverschiebungen wirken auf allen Ebenen ineinander. Migration ist keine ideologisch inszenierbare Ausnahmeerscheinung – sie ist Ausdruck und Folge einer globalen Krise, die aus der Perspektive von Macht, aber auch von Verantwortung verstanden werden muss.
7. Fazit: Migrationspolitik als Spiegel autoritärer Verschiebungen
Die CDU/CSU ist keine klassische Volkspartei mehr, sondern ein kultureller Ordnungsapparat. Sie verkauft Unsicherheit als Stärke, Kontrolle als Fürsorge und Anpassung als Integration.
In ihrer Rhetorik liegt mehr Nähe zu Meloni, Trump oder Orban als zu den Werten, die sie offiziell vertritt. Die Partei nutzt den globalen Rechtsdrift als Rückenwind – und trägt ihn gleichzeitig weiter.
Wer diesen Wandel verstehen will, muss ihn international betrachten: Deutschland steht nicht allein – aber es steht exemplarisch.
Quellen
- https://www.thetimes.co.uk/article/friedrich-merz-german-chancellor-olaf-scholz-pp0j3f66m
- https://en.wikipedia.org/wiki/2025_German_federal_election
- https://foreignpolicy.com/2025/01/31/germany-election-merz-cdu-afd-migration
- https://apnews.com/article/98e9007ea41b8bbd36be8d09baefb632
- https://ecre.org/op-ed-the-christian-democrats-dangerous-gamble-with-the-far-right-in-germany
- https://www.proasyl.de/news/schaebig-und-rechtswidrig-gesetzentwurf-zur-abschaffung-des-familiennachzugs
- https://www.thetimes.co.uk/article/germany-will-turn-away-migrants-without-papers-at-the-border-xf8tr60mr
- https://www1.wdr.de/nachrichten/bundestagswahl-2025/remigration-rechte-praegung-sprache-gefahren-polarisierung-100.html
- https://carnegieendowment.org/posts/2025/01/how-china-aligned-itself-with-saudi-arabias-vision-2030?lang=en
- https://www.swp-berlin.org/10.18449/2025S07